Ein Haus aus Lebkuchen und ein vergifteter Apfel –
Wie das Kulturerbe Genussregion und die Kunst des Märchenerzählens zusammenhängen

von Norbert Heimbeck, 1. Juli 2022

Was haben die Genussregion Oberfranken und Märchen wie „Tischlein deck’ dich“ gemeinsam? Die deutsche UNESCO-Kommission hat sowohl den Verein Genussregion Oberfranken als auch die Kunst des Märchenerzählens im Jahr 2016 in den Rang eines immateriellen Kulturerbes erhoben. Die Mär vom Schlaraffenland, in dem den Menschen gebratene Tauben in den Mund fliegen, ist seit Jahrhunderten aus vielen Kulturen bekannt. Auch in den berühmten Hausmärchen der Brüder Grimm spielt die Kulinarik eine wesentliche Rolle: Schneewittchen wird mit einem Apfel verführt, Hänsel und Gretel suchen mit Hilfe von Brotbröseln ihren Weg nach Hause, Rotkäppchens Großmutter soll dank Kuchen und Wein gesund werden und Aschenputtel erfährt mittels einer Handvoll Linsen, was Mobbing heißt.

Schlaraffenland – Pieter Bruegel der Ältere

Die Freude über die Anerkennung der Genussregion Oberfranken  als immaterielles Kulturerbe durch die UNESCO ist leider nicht ungetrübt. Denn so, wie die Nahrungsaufnahme heute oft zum gedankenlosen „To go“-Verzehr verkommt, so geraten Märchenerzählungen gegenüber multimedialen Produktionen zunehmend in den Hintergrund. Allerdings: An Festtagen wie Weihnachten und Ostern tischen wir auch heutzutage noch gerne große Menüs auf. Und damit sind wir wieder bei den Märchen, denn gefeiert wird darin häufig – und zwar mit einem Festmahl. Woher kennen wir den Abschluss eines Abenteuers in geselliger Runde mit gutem Essen noch? Richtig, aus den zeitgenössischen Comics der Asterix-Serie.

Auf der Webseite der UNESCO zur Kunst des Märchenerzählens heißt es: „Märchen sind als kollektiver, identitätsstiftender Erfahrungsschatz gespeichert, der durch das Erzählen immer wieder neu aktualisiert wird.“ Auch für die Kulinarik gilt: Regionale Spezialitäten sind identitätsstiftend – man denke nur an das Schäufele. In Franken wird das köstliche Stück aus der Schweineschulter im Ofen gebacken, bis es eine knusprig-krachende Kruste hat. Auf dem Teller wird es begleitet von Knödeln und Biersauce. Das „Badische Schäufele“ hingegen wird gepökelt, geräuchert und mit Kartoffelsalat serviert. Genießer sind hier wie dort überzeugt, dass ihre Spezialität die einzig Wahre sei.

Schäufele
Regionale Spezialitäten sind identitätsbildend. Fränkisches Schäufele mit Kruste und Kloß (links), badisches Schäufele gepökelt und geräuchert. Fotos: Jeremy Keith (li), Kungfuman (re, beide aus Wikipedia.de)

So wie Märchen durch Erzählen „immer wieder aktualisiert“ werden, werden auch traditionelle Rezepte an moderne Ernährungsgewohnheiten angepasst und für künftige Feinschmecker bewahrt.

Des weiteren heißt es bei der UNESCO: „Das traditionelle Erzählen von Märchen war einst wichtiger Bestandteil des Gemeinschaftslebens und auch heute gibt es eine fortlebende, oft öffentlich ausgetragene Erzähltradition.“ Auf die Kulinarik übertragen, finden wir bei den fränkischen Volks- und Kirchweihfesten ebenfalls das Ritual des gemeinsamen Essens und Trinkens. In neuerer Zeit tritt das Phänomen des „Diner en blanc“ häufiger auf: Hierbei treffen sich Menschen spontan zum Schlemmen und Plaudern unter freiem Himmel. Eine Gemeinsamkeit haben die Teilnehmer: Weiße Kleidung ist beim öffentlichen Diner Pflicht, alle bringen Speisen und Getränke mit und teilen untereinander.

Diner en blanc in Bayreuth. Foto: bayreuth.media
Diner en blanc in Bayreuth. Foto: bayreuth.media

Dr. Angelika Hirsch, Vizepräsidentin der Europäischen Märchengesellschaft, sagt: „Märchenerzählen ist eine Kunst, die sich an alle Bildungsniveaus, Alters- und Bevölkerungsschichten richtet.“ Das trifft natürlich auch für die Kochkunst zu. Weil alle Kulturen mündlich tradierte Erzählformen haben, eignen sich diese Stoffe ganz besonders für interkulturelle Zusammenarbeit und Verständigung. Womit wir wieder bei der Kulinarik sind. Beim Essen kommen die Menschen zusammen, heißt es. Ein Willkommenstrunk gehört in gastfreundlichen Kulturen auch heute noch dazu.

Auch die Kunst des Märchenerzählens wird vielfach noch hoch gehalten. An dieser Stelle werden künftig Infos zu Märchenerzählerinnen und -erzählern in der Genussregion Oberfranken veröffentlicht. Den Anfang machen wir mit dem Bamberger Genussbotschafter Erik Berkenkamp, der aus einem umfassenden Schatz an Märchen und Sagen schöpfen kann.

Berkenkamp, Erik

In Bayreuth bietet die Märchenfrau Andrea Gisder ein abwechslungsreiches Programm mit kulinarischen Märchenabenden, mit Märchen für Erwachsene und mit vielen anderen Themen.

Hier gibt’s die vollständige Sammlung der Kinder-und Hausmärchen der Brüder Grimm zum Nachlesen: https://www.grimmstories.com/de/grimm_maerchen/index

Essen und Trinken spielen in Märchen, Sagen und Erzählungen in allen Kulturen eine besondere Rolle. Die Symbolik der Lebensmittel lässt Rückschlüsse auf die Gesellschaft, in der die Märchen spielen, zu. Viele Märchen stellen Feste und üppige Bankette dar; aber auch einfache Speisen wie Obst und Gemüse, Nüsse und Käse kommen vor. Häufig finden wir die Darstellung, dass Fleisch- und Weinkonsum den besser gestellten Adeligen und wohlhabenden Bürgern vorbehalten war, Brei und Wasser hingegen war die alltägliche Kost der Bauern und Handwerker.

Wilde Rose Keller, Bamberg. Foto: Markus Raupach
Wilde Rose Keller, Bamberg. Foto: Markus Raupach

Tatsächlich hat das Essen im Laufe der Zeit verschiedene Konnotationen angenommen. Darum fungiert es nicht nur als Nahrungsmittel, sondern dient auch der Interaktion und Kommunikation zwischen Menschen. Noch heute definieren sich bestimmte Gruppen über ihren Konsum: Wer etwa Champagner trinkt, fühlt sich einer anderen sozialen Schicht zugehörig als derjenige, der Dosenbier konsumiert. Noch deutlicher wird der gefühlte Status beim Fleischkonsum: Wer heutzutage auf tierische Produkte verzichtet, tut dies meist aus „edlen Motiven“ heraus, weil man gegen Massentierhaltung ist und stattdessen Tierwohl und Klimaschutz hoch hält. Finanzielle Fragen spielen im Gegensatz zur Zeit der Märchenentstehung beim Fleischverzehr keine Rolle mehr. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass Fleischkonsum auch heute noch vor allem in männlich dominierten Gesellschaften mit Potenz und Stärke assoziiert wird.

Reichsapfel des (Heiligen) Römischen Reiches.
Reichsapfel des (Heiligen) Römischen Reiches. Foto: Wikipedia

Die Obst-Symbolik ist breit gefächert: Der Apfel etwa steht in der germanischen Mythologie für die Unsterblichkeit der Götter, gilt später als Symbol kaiserlicher Macht und zeigt in religiöser Lesart die Reifung des Menschen: Die Frucht vom „Baum der Erkenntnis“ führt zur Vertreibung aus dem Paradies. Fortan muss der Mensch sein täglich Brot „im Schweiße seines Angesichts“ essen. Immerhin hat er in der Kommunion dank Brot (und Wein) noch göttlichen Kontakt. Wein hat die gleiche Symbolik wie Brot. Er ist das Kultgetränk des Christentums, mit dem die Liturgie gefeiert wird.

Interessant ist die Darstellung der Kartoffel als Speise der Armen. Denn tatsächlich war sie während mehrerer Hungersnöte Basis für das Überleben. Zahlreiche Erfahrungen mit Not und Nahrungsknappheit in der jüngeren Vergangenheit haben hier die Literatur beeinflusst.

Gemüse ist aber häufig auch ein Symbol für Fruchtbarkeit, etwa wenn die Frau im „Rapunzel“-Märchen nach dem Genuss von Feldsalat schwanger wird.

In den Grimm’schen Märchen gibt es zahlreiche Bespiele von magischen Speisen und Getränken. Hier werden großzügig Speis’ und Trank zur Verfügung gestellt, wenn man die magischen Worte ausspricht, wie etwa in „Tischlein deck’ dich“. Aber Obacht: Wer das magische Geschenk nicht klug nutzt, läuft Gefahr alles zu verlieren, wie in „Der süße Brei“ oder in „Tischlein deck‘ dich“.

Auch der Bayerische Ministerrat hat die Genussregion Oberfranken ausgezeichnet – wir sind damit offizieller Bestandteil der bayerischen Identität: https://www.ike.bayern.de/verzeichnis/000245/index.html

Aus der Presseberichterstattung anlässlich der Aufnahme in das bayerische Register des immateriellen Kulturerbes (2016):

Der Georgiritt gehört dazu, die Tölzer Leonhardifahrt, der historische Schwerttanz von Traunstein oder das Spitzenklöppeln im Oberpfälzer Wald: Sie alle sind immaterielles Kulturerbe in Bayern. Seit  September 2016 gehört auch die Genussregion Oberfranken dazu. „Für uns ist das der Ritterschlag par excellence“, so der Kulmbacher Landrat Klaus Peter Söllner, 1. Vorsitzender des Vereins Genussregion Oberfranken bei der Aufnahme in das Bayerische Landesverzeichnis des immateriellen Kulturerbes durch Kultusminister Ludwig Spaenle bei einem Festakt in der Münchner Residenz.

Ziel der Genussregion ist unter anderem die Bewahrung der traditionellen Spezialitätenvielfalt in Oberfranken. Hier gebe es eine große Bandbreite kulinarischer Besonderheiten, mit denen meist sorgsam gepflegte Bräuche und ihre kreative Weiterentwicklung verbunden sind, so Söllner.

Die kulinarische Identität sei dabei nicht nur ein Stück Geschichte, sondern allseits gepflegte kulturelle Gegenwart und Teil der Identität der Menschen, sagte der stellvertretende Vorsitzende Christian Herpich aus Hof, der dem Publikum beim Festakt eine Steige Hofer Rindfleischwurst präsentierte. Seit der Vereinsgründung 2007 sind nach den Worten von HWK-Präsident Zimmer 321 Spezialitäten mit oft jahrhundertealter Tradition und Rezeptur erfasst, bearbeitet und dokumentiert worden. Damit ist Oberfranken die erste Region in Deutschland, die ihr kulinarisches Erbe komplett erfasst und dokumentiert hat. Zentraler Bestandteil der Genussregion sei dabei ein mehrfacher Weltrekord: Gemessen an der Zahl der Einwohner gebe es in Oberfranken die weltweit meisten Bäckereien und Konditoreien (529), die meisten Metzgereien (714) und auch Brauereien (200), aber auch die meisten Brennereien und Teichwirte. „Wir sind Weltmeister in puncto Genuss, Qualität und Vielfalt“, so Vorstandsmitglied Stephan Ertl aus Kulmbach, der am 10. November die oberfränkische Gastronomie in München vertrat.

Lebendige Traditionen wie Musik, Tanz, Feste, Bräuche und Handwerkstechniken machten den Kulturstaat Bayern aus, sagte Kultusminister Spaenle. Das werde schon daran deutlich, dass von den 57 Bewerbungen für die Bundesliste 20 aus Bayern kamen. Sämtliche Initiativen verkörperten dabei in ganz hervorragender Art und Weise einen modernen und zukunftsgewandten Heimatbegriff, der vor dem Hintergrund der Globalisierung und einer ständig unübersichtlicher werdenden Welt immer wichtiger werde. Tradition bedeute dabei, das, was wichtig ist, zu bewahren und weiterzutragen, sagte der Minister.

Die Genussregion Oberfranken fand dabei Eingang in ein neu geschaffenes „Bayerisches Register guter Praxisbeispiele der Erhaltung des immateriellen Kulturerbes“. Ein achtköpfiges Expertengremium unter der Leitung des Regensburger Kulturwissenschaftlers Daniel Drascek hatte alle im zweiten Ausschreibungsverfahren eingegangenen Bewerbungen begutachtet. Eine besondere Rolle spielten dabei die maßgeblichen Kriterien des UNESCO-Übereinkommens wie Alter, Wandel, Inhalt, Bedeutung, Erhalt, Gefährdung und Kommerzialisierung. „Gerade das verleiht unserer Kultur eine ganz besondere Prägung“, sagte Drascek.

Unterschieden werden drei Arten von Verzeichnissen des immateriellen Kulturerbes:

Verzeichnisse des Kulturerbes gibt es auf Landesebene, auf Bundesebene und auf der Ebene der UNESCO. Die Arbeit der Genussregion Oberfranken wurde nach der Landesebene nun auch auf Bundesebene in das Register guter Praxisbeispiele aufgenommen.

 Die „Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ soll die Vielfalt der immateriellen Kulturformen anhand ausgewählter Beispiele aus allen Weltregionen sichtbar machen. Die Repräsentative Liste soll eine bessere Sichtbarkeit des immateriellen Kulturerbes gewährleisten, das Bewusstsein für seine Bedeutung stärken und den Dialog bei gleichzeitiger Achtung der kulturellen Vielfalt fördern.

Mit der „Liste des dringend erhaltungsbedürftigen immateriellen Kulturerbes“ macht die UNESCO auf vom Aussterben bedrohte Kulturformen aufmerksam. Um geeignete Schutzmaßnahmen ergreifen zu können, sieht das Übereinkommen eine Liste des dringend erhaltungsbedürftigen immateriellen Kulturerbes vor.

In das „Register guter Praxisbeispiele“ (hier wurde die Genussregion Oberfranken aufgenommen) werden Projekte und Aktivitäten aufgenommen, die modellhaft die Grundsätze und Ziele des Übereinkommens widerspiegeln. Der Zwischenstaatliche Ausschuss für die Erhaltung des immateriellen Kulturerbes, auf Bundesebene die deutsche UNESCO- Kommission,  wählt für das Register guter Praxisbeispiele lokale, regionale oder nationale Projekte aus, die modellhaft die Grundsätze und Ziele des Übereinkommens widerspiegeln.

Die vollständige Liste des Bayerischen Landesverzeichnisses des immateriellen Kulturerbes finden Sie hier: https://www.ike.bayern.de/cgi-bin/fts_search_keo.pl